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Eine Ausstellung des Kunsthaus Dresden in Zusammenarbeit mit Visual Seminar, Sofia, und relations.

WER NUR DIE HÄLFTE WEIß, WEIß NICHTS – dieser Werbeslogan der Zeitschrift Capital hing im vergangenen Jahr für einige Wochen an einem Hochhaus am Bayerischen Platz in Leipzig. Die Leipziger Künstler Jan Wenzel und Anne König präsentierten eine Aufnahme davon auf dem Symposium WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL im August 2005 in Dresden. Sie schilderten die Veränderungen ihrer Stadt seit der Wende anhand visuellen Materials, vor allem aber lauschten sie Leipzig die Transformation gleichsam ab: von der gewandelten Lautsprecheransage im Hauptbahnhof bis zum Motorengeräuschvergleich Trabant – BMW.

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„Wer nur die Hälfte weiß, weiß nichts“: Dieser Slogan könnte auch den Arbeitsprozess des Projekts WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL beschreiben, aus dessen erster Phase der Information, des Austauschs und Symposiums nun die zweite Phase der Ausstellung künstlerischer Arbeiten folgt. Von Beginn an war die Begegnung von KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen aus Dresden und Sofia auf eine langsame Annäherung angelegt, auf eine Entwicklung in mehreren Phasen, innerhalb derer Urteile und Vorurteile über kapitalistische Entwicklungsprozesse widerlegt, differenziert und schließlich in neue Kenntnisse überführt werden sollten. Wie verändern sich Konzepte von Öffentlichkeit, wie lassen sich die Erfahrungen von dem neuen Wirtschaftssystem in Biografien fassbar machen? Welche Sehnsüchte verbinden sich mit dem kapitalistischen System und welche Ernüchterungen? Wo stoßen die unterschiedlichen Raumkonzepte und Interessen der Akteure aufeinander? Und lässt sich tatsächlich Raum als eine reale oder imaginäre Grenze begreifen, die kapitalistisches Wirtschaften nicht überschreitet, wie der bulgarische Kulturwissenschaftler Ivaylo Ditchev behauptet?

„Der Raum ist gewissermaßen eine der fundamentalen Grenzen des Kapitalismus: Die Intuition von Raum impliziert Andersheit, der dem Kapitalismus zugrunde liegende Glaube besagt, dass alles mit allem austauschbar ist.“ So die These, die Ivaylo Ditchev auf dem Symposium in Dresden vertrat. Angesichts vorangegangener erster Begegnungen von TeilnehmerInnen des Projekts aus Dresden und Sofia und angesichts des Furors, mit dem der Systemwechsel die Lebensverhältnisse in Sofia durchgeschüttelt hat, war allerdings aus „westlicher“ Perspektive kaum zu unterscheiden, ob Ditchev eine Überzeugung oder eine Hoffnung formulierte. Der Projekttitel WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL ist ja nicht zuletzt der Überlegung geschuldet, dass Kapital sich über alle denkbaren Begrenzungen hinwegsetzt und den „Austausch“ vorantreibt: von Schriftzügen an Fassaden bis zu Lebensläufen, von Arbeitsplätzen bis zur Kleidung, von Angebot und Nachfrage. Eingetauscht wurde das Verordnet-Egalitäre des Staatssozialismus gegen das Repressiv-Individualisierende des Kapitalismus.

Was diesem Zugriff nach Ansicht Ivaylo Ditchevs, zumindest in Sofia, in erster Linie widersteht, ist etwas in postsozialistischen Gesellschaften gänzlich Unvermutetes: die Eigentumswohnung. Ihr Besitz war – bei neunzig Prozent aller Haushalte – auch unter dem kommunistischen Regime in Bulgarien die Regel. Nicht nur in den aufgelockert bebauten Vierteln aus den fünfziger Jahren nahe des Stadtzentrums, sondern auch in den späteren Plattenbausiedlungen in den Außenbezirken. Die Unantastbarkeit der eigenen Wohnung bildet in der Wahrnehmung der SofioterInnen bis heute eine Grenze, eine letzte Bastion gegen die fremde Bestimmung ihrer Lebenswelt und der sozialen Deklassierung. Aber ist diese Grenze nicht augenscheinlich eine Illusion, eine Chimäre?

Der Untersuchung dieser und anderer Fragen im Kontext des Zusammenhangs von Raum und Kapital widmen sich die Arbeiten der Ausstellung, mit der das Projekt WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL im Sommer seinen Abschluss findet. Im Kunsthaus Dresden inszenieren Eva Hertzsch und Adam Page aus Dresden eine Bürgerversammlung. Die vermeintliche Live- Übertragung des Geschehens hinter verschlossenen Türen zeigt Videoaufnahmen, auf denen Oberbürgermeister Rossberg für den Verkauf sämtlicher kommunaler Wohnungen eintritt. Sechzehn Jahre nach der Wende hat sich die Stadt Dresden in eine Verschuldung hinein manövriert, aus der als letzter Weg nur noch die Privatisierung aller 48.000 kommunalen Wohnungen zu führen scheint. Das Angebot des amerikanischen Finanzinvestors Fortress steht bei knapp einer Milliarde Euro – die Endstation einer ausgezehrten Kommune, die nach 1990 durch ihre Baupolitik dem Kapital seine Grenzen setzen wollte, durch Einfluss auf die Wohnungsbewirtschaftung, ausgeklügelte Planungen und Leitbilder, Gestaltungs- und Werbesatzungen.

Auch die Arbeiten anderer KünstlerInnen handeln von der Ausweitung des Kapitals bis hin zur Einschränkung selbstgegebener Glücksversprechen. Ivan Moudov aus Sofia bündelt die Erschütterung der Lebensverhältnisse in dem lakonischen Objekt einer Fahrstuhlkabine als Metapher für gesellschaftlichen Aufstieg und die Sehnsucht nach Freiheit. Auf Knopfdruck hebt sich allerdings nur der Boden... Die getrennten Wege des Geldausgebens und Geldverdienens, die sich durch die Stadt bahnen, werden von Krassimir Terziev zusammengeführt. Er inszeniert die Kollision zweier Busse mit osteuropäischen ArbeitsmigrantInnen und mit westeuropäischen TouristInnen. Das Trümmerfeld wird begleitet von Ausschnitten aus einer Aufführung der Semperoper und einem Bildschirm mit Stellenanzeigen. Andreas Siekmann aus Berlin untersucht im „theatrum oeconomicus“ die Rolle der Treuhand bei der Privatisierung der Wirtschaft in Ostdeutschland. In Piktogrammen, Schaubildern, Diagrammen, Texten sowie einem Figurenkarussell werden Aufstieg und Fall der Treuhand als Beispiel für korrumpierte politische Strukturen und die Degradierung der Arbeitskraft Mensch zur statistischen Größe aufgeführt. Die Dresdner Künstlergruppe Reinigungsgesellschaft hingegen erfuhr die durch den Bürgerkrieg verzögerte Privatisierung der Textilwirtschaft mittels einer serbischen „Treuhand“ als vorläufige Erfolgsgeschichte. Javor Gardev aus Sofia wird in einer Fernsehshow als Major J. Stefanow der neugegründeten „Sofioter Geschmackspolizei“ interviewt. Dabei sitzen ihm sechs der angesehensten Fernsehmoderatoren des bulgarischen Fernsehens gegenüber. Durch die Autorität des Mediums Fernsehen wird diese Fiktion zur Realität, das ästhetische Geschmacksurteil zum allgemeinen Gesetz.

Vor dem Hintergrund der Entwicklung Dresdens zu einer „imaginären Stadt“, wie der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg die bildhafte Ordnung des Barocks analysiert, beschreibt die Ausstellung WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL die Umwertung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Postsozialismus durch den Einfluss des Kapitals sowie imaginierte Grenzen des Kapitalismus.


Von Torsten Birne und Sophie Goltz
Co-KuratorInnen des Projekts WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL


Der Text erschien unter dem Titel „Die Grenzen des Kapitals“ in read relations 4 (04/2006), der Zeitung zum Projekt relations.