Unsere Verwandten im „Neuen“ Europa – wir kennen Sie so wenig wie entfernte Mitglieder der Familie, die ausgewandert sind. Oder eher wie Verschollene, die eines Tages an die Tür klopfen? Nach dem „Abschmelzen des Gletschers Kommunismus stochern wir in den Endmoränen. In Archiven, Schicksalen, Einsichten.“[1] (Wolfgang Büscher) „Der Osten ist unser Geschichtengrab“, oder, wie Andrei Plesu es ausdrückt: Wenn er einem Brüssler Beamten begegne, stelle er sich zunächst mal so vor: „Gestatten…, I am your past.“
Gleichzeitig haben wir uns zur gemeinsamen Zukunft entschlossen. Am 1. Mai 2004 wird ein Teil der Geschichte revidiert, die „Erweiterung“ des Westens findet statt, oder die so genannte Osterweiterung. Das „alte“ und das „neue“ Europa werden lernen müssen, dasselbe Haus zu teilen. Machen wir uns einen Begriff von der Beziehungsarbeit, die uns bevorsteht? Von der Missgunst, von der Notwendigkeit einer neuen Solidarität? Die Öffentlichkeit hier wie dort nähert sich der Vergangenheit und der Zukunft noch sehr indirekt; verbogene und gewundene Bilder der Täuschungen sollen der Enttäuschung vorbauen.
Was wir dagegen brauchen werden wie den gemeinsamen Bissen Brot, sind Ent-Täuschungen, Ent-Fremdung, die Herstellung von (Verwandtschafts-) Beziehungen, die Geburt einer gemeinsame Sprache aus der Polyphonie von Geschichte und Artefakt. Zweifellos, wir teilen mehr als uns bewusst ist (‚shared cultures’), und uns trennt ein halber Kontinent.
Kunst als Artefakt der Herstellung von relations – ein zwingendes Konzept der Bundeskulturstiftung. Nach 13 Jahren ‚Ost-Öffnung’, die ich unter anderem als Leiter einer auf Kulturbeziehungen zwischen Ost und West spezialisierten Einrichtung[2] mitgestalten konnte, sind Paradigmenwechsel dringend vonnöten. Zum einen, weil die EU-Erweiterung eine ungekannte Dynamisierung der Dialektik von Fremdem und Eigenem ‚internalisiert’ ‚Externalisierung’ nicht mehr zulässt, zum anderen, weil die nationalen, bilateralen Kooperationsmodelle an ein ‚Ende’ gekommen sind. Die relations sind zu einer europäischen Frage geworden, auch wenn dies im Reflex nationaler Politiken noch nicht nachvollzogen scheint. Es ist hier nicht der Ort genauer Begründungen. Ich behaupte hier mehr, als ich beweise, dass die ungeahnten Komplexitäten der gemeinsamen Zukunft den Seismographen Kunst brauchen, und die Avantgarde, das Laboratorium der Worte, Bilder, Experimente, ohne die Gesellschaften in Materialismus ertrinken.
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Paradox: eine nationale (deutsche) Kulturstiftung transzendiert den Rahmen der nationalen Kulturdiplomatie. Nicht paradox: eine neue Einrichtung agiert als Inkubator, risikobereit und kühn.
Gerne bin ich der Einladung von relations gefolgt, dem internationalen Beirat anzugehören. Meine Arbeit in der Europäischen Kulturstiftung[3] orientiert sich an ähnlichen Parametern. Es gibt zwar Partner, die europäische Projekte entwickeln und transnationale Innovation fördern, aber nicht allzu viele.
* relations investiert in den Partnerländern; in die Freiheit der künstlerischen Ent-Fremdung: großartig, großzügig und selten.
* relations negiert nicht die Herkunft der Mittel und der initialen Idee; realistisch und nicht „zudeckend“.
* relations bindet Projekte in den Erweiterungs- und Noch-Nicht-Erweiterungsländern zusammen – auch das ein Vorzug des Programms: „exclusions“ (z.B. den Balkan) mitzudenken bei seinem Ansatz der „inclusion“.
* relations bindet die Projekte, Produkte und Menschen zurück nach Deutschland; Europa entsteht nur im lokalen Kontext, in den Städten, Galerien, Werkstätten der lokalen Aneignung. Bürgergesellschaft und Glokalisierung...
* relations kommuniziert horizontal: die Regionen des „Drinnen“, des „Bald Drinnen“ und des „Noch Draußen“ interagieren europäisch, über die Sonden der Artefakte, über die Kunst des freien Spiels im Reich des Notwendigen.
* relations ist Beziehungsarbeit unter „relatives“ und lustvolles Experiment.
In Wien würden wir sagen: A scheene Verwandtschaft.
In Amsterdam sage ich: Noch ein Free Haven mehr.
Viel Glück!
Gottfried Wagner
Generalsekretär der Europäischen Kulturstiftung
Amsterdam, 10.4.2003
[1] Zuletzt erschienen: Wolfgang Büscher: Berlin-Moskau. Eine Reise zu Fuß. Rowohlt 2003
[2] KulturKontakt Austria
[3] Gegründet von Denis de Rougemont 1954 in Genf. Erster Präsident: Robert Schuman. Seit 1960 in Amsterdam ansässig. Derzeitige Präsidentin: IKH, Prinzessin Margriet der Niederlande. Internationaler Board, National Committees in 23 Ländern. |