In seinen allerletzten Schriften prägte Walter Benjamin den Begriff „Tigersprung“ als Metapher für die Konstruktion von Geschichte, um den speziellen Moment zu definieren, in dem ein Sprung in die Vergangenheit stattfindet, der nötig ist, um im Vergangenen die Zukunft zu finden. Benjamin betrachtet den Tigersprung dialektisch, als Verbindung des Klassischen und Ewigen mit seiner Antithese, der Jetztzeit. Uns dem Bewusstsein aussetzen, dass wir im 21. Jahrhundert leben, heißt, einen Tigersprung „unter dem freien Himmel der Geschichte“ zu vollziehen, um zu begreifen und anzuerkennen, dass unsere Existenz transhistorisch ist. Sie ist ebenso mit der Geschichte verbunden wie in die Zukunft gerichtet. Unser Überleben und Erfolg im neuen Jahrhundert sind nicht nur von der Entwicklung der Marktwirtschaft und neuer Technologien abhängig, sondern auch von unserer Fähigkeit, die Erinnerung an das schöne und schreckliche 20. Jahrhundert zu konstruieren und zu rekonstruieren. Nur indem wir zurückblicken, wird es uns möglich sein, einen neuen menschlichen Horizont zu entdecken, einen Horizont, der das Gewicht einer in die Vergangenheit und aus ihr heraus projizierten Zukunft tragen kann.
Die Erinnerung an das Vergangene zu re-/konstruieren ist eine Herausforderung, der sich nicht nur Osteuropa stellt. Aber sie hat dort eine besondere Relevanz, weil die Vorstellungen, Bilder und gedanklichen Konstruktionen von „Osteuropa“, „osteuropäischer Kunst“ oder „Ostberlin“ jetzt bereits etwas völlig anderes beinhalten als vor dem Fall der Berliner Mauer. Als die Grenze zwischen West- und Osteuropa noch real existierte, stellten sich die Herausforderungen anders dar als heute. Heute existiert die Mauer nicht mehr als Mauer, aber ihre Bedeutung und die Erinnerungen an sie als geistiges und kulturelles Konstrukt leben fort. Es gibt eine gewisse paradoxe Zwangsläufigkeit, dass etwas genau dann als anders erkannt wird, wenn es Teil eines größeren Ganzen werden möchte, etwa Teil einer gemeinsamen europäischen Identität. Dieses Phänomen hat gute und schlechte Seiten. Man muss es dialektisch betrachten, nicht ideologisch, aber wie? Ich schlage vor, von folgenden drei Fragen auszugehen:
1. Was ist Osteuropa, existiert es überhaupt, und wenn ja, in welcher Form?
2. Wie will Osteuropa sich an sich selbst erinnern, und wer/ wie will es werden?
3. Wie wollen wir, als hypothetisch einheitliches, europäisches Ganzes, uns an Osteuropa erinnern? Und was wollen wir werden?
1. Was Osteuropa als einen identifizierbaren, politischen und kulturellen Raum definiert, ist keine einheitliche Ideologie oder gemeinsames politisches Handeln. Es ist vielmehr einerseits die gemeinsame Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit und die sowjetische Herrschaft in vielen Ländern, die verbindet. Andererseits ist es die harte wirtschaftliche Realität der Gegenwart mit den komplexen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen, die mit der so genannten Transformation vom politisch-ökonomischen System des Sozialismus beziehungsweise Kommunismus in das völlig andere der freien Marktwirtschaft und dem Streben nach Demokratie verbunden sind. Was Osteuropa heute ausmacht, sind zudem sehr offensichtliche, seh- und fühlbare Dinge, wie die Zustände der Städte und Landschaften, mit den deutlichen Spuren der Zerstörung, aus denen momentan überall Neues erwächst. Osteuropa vermittelt einer BesucherIn heute Eindrücke, die eine unglaubliche Inspiration sein können für jeden, der sich über die tiefe Logik Gedanken macht, die dem Entwerfen, dem Aufbau und der Dekonstruktion von Systemen, ja der Zerstörung und Re-Konstruktion von Welten innewohnt. Es ist dieselbe Logik, die die Erinnerungen und Zukunftsvisionen dieser Systeme und Welten zusammenhält.
2. Die Frage zu beantworten, wie Osteuropa sich an sich selbst erinnern möchte, ist sehr schwierig, wenn nicht unmöglich oder zumindest sehr komplex. Das liegt in erster Linie daran, dass die Kontakte und Verbindungen der Länder Osteuropas untereinander sehr spärlich sind oder gar nicht stattfinden. Der größte Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa im Erleben von Realität könnte genau dies gewesen sein: Die Möglichkeit der offenen Grenzen, des freien Austauschs von Ideen, Gütern und Menschen, der Weiterentwicklung, der Existenz von Institutionen, Verbindungen und Netzwerken, die die westlichen Länder miteinander verbinden, auch wenn sie nach wie vor einzelne Nationalstaaten sind. Im krassen Gegensatz dazu die nur allzu gut bekannte kommunistische Besessenheit von Grenzen, Isolierung und Kontrolle über den freien Austausch von Ideen, Gütern und Menschen. Vor dem Fall der Berliner Mauer wurde Osteuropa über seinen starken militärischen und ideologischen Apparat definiert. Über Jahrzehnte versperrte dieser Apparat den Menschen in Bulgarien nicht nur den Zugang zu Bildern vom Leben in Deutschland oder Amerika, sondern verwehrte sogar Tschechen Informationen über das Leben in Rumänien, Polen oder Litauen. Der Kommunismus ließ keinerlei kulturelle Entwicklung zu; das einzige akzeptierte Kulturmodell war eine isolationistische und nostalgische Nationalkultur – sie entstammte Institutionen, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden waren, in einer Zeit also, als die meisten dieser Länder noch nicht einmal kommunistisch regiert waren.
Wenn wir begreifen, dass Kultur der essentielle Rahmen jeder Gesellschaft ist, weil sie Werte und Visionen bietet, die wir zum Leben brauchen, zum Kommunizieren, um zu wissen, wer wir sind, dann kann es uns nicht überraschen, dass als erste Reaktion nach dem Sturz des Kommunismus ein Ausbruch von Nationalismen in ganz Osteuropa stattfand. Der erste Impuls, dem diese Gesellschaften nach der Zerstörung auch der Ordnung dieser Systeme folgten, war die Rekonstruktion ihrer Identität auf der Basis von etwas bereits Existierendem - wie veraltet und rückschrittlich es auch sein mochte – und nicht auf der Basis komplett neuer Visionen und Konzepte.
Es gibt jedoch in allen osteuropäischen Kulturen neben der Nationalkultur ein weiteres kulturelles Phänomen: die so genannte „versteckte“, „inoffizielle“, „alternative“, „Untergrund-“ Kultur, die wirklich gegenwartsnah und offen ist, und die nur in privaten Kreisen oder über verborgene gesellschaftliche Kanäle stattfindet. Wie sehr diese Kultur sichtbar und institutionalisiert ist, hängt davon ab, wie repressiv im jeweiligen Land mit kulturellen Äußerungen umgegangen wurde; das Spektrum reicht hier von extrem repressiv, beispielsweise in der Sowjetunion, bis eher liberal im Jugoslawien Titos. Diese Alternativkultur war einerseits durch ihren politischen und sozialen Widerstand gegen die dominierende kommunistische Ideologie und die Nationalkultur definiert; andererseits entsprang sie einer Sehnsucht nach offenen Grenzen und Internationalität; man verfolgte aufmerksam alle Trends und Ideen im Westen. Obwohl diese „versteckte“ Kultur nach dem Sturz des Sozialismus eine wichtige treibende Kraft in der Gesellschaft war, wurde sie doch während der Umstrukturierungen nicht als Modell für die Zukunft gesehen, – paradoxerweise mit der Begründung, niemals Teil der institutionalisierten Kultur gewesen zu sein und keine nennenswerte sicht- oder nachweisbare Tradition zu haben.
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Ich persönlich glaube, dass die Re-/Konstruktion der Erinnerung an diese versteckte Kultur essentielle Bedeutung für die Zukunft hat, denn:
* man findet in ihr echte Gesellschaftsanalyse sowie Ideen und Werte, die der jeweiligen Gesellschaft die Möglichkeit geben, sich aus einer zeitgemäßeren Perspektive zu sehen.
* sie ist die Basis für eine kritische Betrachtung, Entwicklung und Re-/Konstruktion der Erzählung, die das Vergangene mit dem Zukünftigen verbindet.
* sie ist die einzige kulturelle Tradition in diesen Ländern, die offen ist für konstruktive Kommunikation und Integration mit anderen europäischen Ländern, und die neue Themen, Blickwinkel, sowie ein anderes Problembewusstsein in die bestehende europäische Agenda einbringen könnte.
* sie ist im Grunde die einzige kulturelle Tradition, in der Ideen und Werte lebendig sind, auf deren Basis die osteuropäischen Länder im Prozess der europäischen Integration als gleichwertige Partner auftreten können.
Dennoch existiert diese Erinnerungs-Kultur nicht auf den „Landkarten“ der regionalen oder nationalen Kulturen – weder auf der „Karte“ der osteuropäischen Kulturen, falls es so etwas gibt, noch auf jener der „gemeinsamen“ europäischen Kultur, auf der natürlich Westeuropa immer noch dominiert. Es wäre jedoch zu einfach, wenn man sagt, dass dies nur am westlichen Kulturimperialismus liegt; natürlich ist es auch die Konsequenz aus der Unfähigkeit der osteuropäischen Länder, ihre Perspektive zu verändern, sich selbst kritisch zu betrachten und ihre eigenen Modelle für Weiterentwicklung und Wachstum zu entwerfen.
3. Das Projekt relations ist daher einmalig unter den vom „Westen“ ausgehenden Initiativen, weil es einen Versuch darstellt, tiefer in die realen, häufig auch traumatischen Probleme vorzudringen, die die Gesellschaften damit haben, tatsächliche Grenzen zu überschreiten, noch lange nachdem die ideologischen gefallen sind. Alle ausgewählten Projekte, so unterschiedlich sie sein mögen, konzentrieren sich auf die Frage, wie man die jeweiligen osteuropäischen Bedingungen verbessern könnte und wie sich auch der Blick der anderen, beispielsweise der Deutschen, auf die osteuropäische Realität positiv verändern könnte, soweit, dass der Blick auf Osteuropa zu einem Austausch wird, der beide Seien inspiriert.
Meiner Meinung nach ist innerhalb dieser Dialektik die Frage ebenso wichtig, mit welchen Strategien sich zwischen den osteuropäischen Ländern bessere Verbindungen und Kommunikationsnetze aufbauen lassen, wie der Ausbau der Kommunikation und des Austausches zwischen Ost und West. Da ich mich in meinem Denken stark auf die Re-/Konstruktion von Erinnerung konzentriere, darauf, wie wir uns daran erinnern wollen wer wir einst waren, um zu verstehen, wer wir einmal sein werden, interessiert mich besonders der Vorschlag der Galerie Foksal. Deren Projekt enthält als zentrales Element ein öffentlich zugängliches Archiv, das Kunstwerke dokumentiert, die sich noch im Privatbesitz der KünstlerInnen befinden. Ein solches Archiv ergänzt sich mit anderen Projekten, die darauf abzielen, Erinnerung lebendig zu halten und die Vergangenheit in eine zeitgemäße Perspektive zu integrieren. Das Museum für Moderne Kunst in Ljubljana zeigte in den Ausstellungen „Body and the East“ („Das Bild des Körpers in Osteuropa“) und „East 2000 +“ (eine Sammlung osteuropäischer Konzeptkunst) hauptsächlich Objekte, die über Jahre in den Kellerräumen der Künstlerinnen vergessen wurden. Die slowenische Gruppe bildender Künstler „Irwin“ versucht in ihrem Projekt „East Art Map“ („Landkarte der Kunst Osteuropas“) eine Auseinandersetzung über das Kunstgedächtnis Osteuropas anzuregen. Das rumänische Kollektiv „SubReal“ verwendete das Archiv der Kunstzeitschrift „Arta“ als Materialgrundlage für ihr ehrgeiziges Projekt „Art History Archive“ („Kunstgeschichte-Archiv“).
Es gibt natürlich viele Möglichkeiten und Ansätze, mit den oben angesprochenen Problemstellungen umzugehen; ich möchte folgende konkrete Vorschläge machen, diese Themen mit Hilfe der durch relations bereitgestellten Strukturen anzugehen:
* Zusammenbringen der verschiedenen osteuropäischen Gruppen, die sich mit der Rekonstruktion von Kultur beschäftigen. In Rahmen eines Workshops können Netzwerke geschaffen, Vorstellungen, Vorgehensweisen, Erfahrungen, Kontakte, und praktische Lösungsvorschläge für die gemeinsamen Probleme ausgetauscht werden. Die Ergebnisse des ersten Workshops werden in einer offenen Ausstellung gezeigt und können durch die Erfahrungen anderer ergänzt und erweitert werden.
* Als Alternative oder Ergänzung zu diesem Workshop könnte relations eine Konferenz über die Re-/Konstruktion der Erinnerung an das 20. Jahrhundert ermöglichen und so Intellektuelle, KünstlerInnen und professionelle Kunstvermittlerinnen aus Ost und West zusammenbringen, Menschen also, zu deren täglicher Erfahrung es gehört, Grenzen zu überschreiten oder zu negieren. Gemeinsam könnte man dann die Räume und Grenzen untersuchen, die die TeilnehmerInnen in der Gesellschaft einnehmen und die Sensibilität für die Wahrnehmung von Räumen und Übergängen wecken. Die Konferenz könnte konkrete Projekte der TeilnehmerInnen thematisieren (wie Bücher, Ausstellungen, Festivals, Programme). Dieser Austausch von Erfahrungen, die Beiträge und Präsentationen könnten in Form eines Videos dokumentiert werden.
Eda Čufer, 24. April 2003 |